Leseprobe – Sommervogel

 

1.
New York, Januar 1912

Sommervogel

Der Januar war der kälteste Monat in New York. Wenn die Feuchtigkeit vom Atlantik kam, gab es häufig Schneestürme, so wie zum Anfang des Jahres. Als sie aus der Vorstellung kamen, schneite es wieder. Nikoline blieb unter dem Vordach der Metropolitan Opera stehen und sah Antonio nach, der lief, um sein Automobil zu holen. Schon nach kurzer Zeit war seine Gestalt hinter dicht fallenden Flocken verschwunden.

Eine Kutsche nach der anderen fuhr vor, immer mehr Besucher drängten aus dem Opernhaus und mussten warten, weil der bestellte Wagen noch nicht kam. Zwischen den Herren mit Zylindern und Damen, die ihre ausladenden Hüte festhalten mussten, war Nikoline kaum zu sehen. Sie war ja wirklich eine kleine Schneiderin mit ihren Einsneunundfünfzig. Immerhin gab die Menge ihr einen gewissen Windschutz.

Sie hatte bisher zwei schneereiche Winter in dieser Stadt erlebt, und die waren weitaus strenger als die in Deutschland gewesen. Doch auch damals in Prisdorf waren sie einige Tage eingeschneit gewesen. Und dann in Delitzsch! Sie schüttelte sich und zog den Pelzkragen höher. Nicht daran denken. Das war so tödlich wie ein Blick in die verbotene Kammer des Ritters Blaubart.

Jetzt fuhr der schwarze Fiat vor, das Dach und die lange Motorhaube waren schneebedeckt. Alle um sie herum reckten die Hälse: das neueste Modell! Antonio stieg aus, ging um das Fahrzeug herum, entdeckte sie und hielt ihr mit einem Lächeln die Wagentür offen. Man drehte sich um, man machte ihr Platz. Einen Moment lang genoss sie das Gefühl, von allen Damen um diesen Kavalier beneidet zu werden, dann stieg sie ein, mit Grazie, trotz Hut und wallendem Mantel.

Antonio fuhr langsam. Die Scheiben waren beschlagen. Er wischte mit einem Tuch ein Sichtfeld frei. Sie starrten durch die Frontscheibe in das Schneegestöber und erkannten gerade nur das Licht der nächsten Gaslaterne. So kamen sie immerhin nicht von der Straße ab. Seinen Fiat hatte er erst vor wenigen Tagen am Hafen in Empfang genommen und war noch nicht mit dessen Eigenheiten vertraut. Autos faszinierten ihn. Er liebte den Geruch von Motoröl und Benzin. Das war für ihn die Zukunft. Nikoline, die sich manchmal über seine Leidenschaft für die neuesten Maschinen amüsierte, war nun doch froh, in diesem geschlossenen Blechkasten zu sitzen. Dem konnte das Wetter weniger anhaben als den bedauernswerten Pferden und Kutschern.

Antonio war in New York aufgewachsen und kannte sich gut aus. Nikoline wusste bald nicht mehr wo sie sich befanden. Doch als der Wagen endlich hielt, standen sie gerade vor ihrem kleinen Schneideratelier, mit dem neuen Schriftzug auf der Schaufensterscheibe: Niky’s Sartoria.

Sie atmete seufzend aus, denn nun kam der Moment des Abschieds. Antonio musste für einige Monate geschäftlich nach Europa. „Im April, wenn wir uns wiedersehen, wird schon Frühling sein“, sagte sie, „das heißt, es gibt dann doppelten Grund zur Freude.“

„Drei Monate – Niky, ich werde dich vermissen.“

„Ja, so lange waren wir noch nie getrennt – ich werde viel Zeit für meine Kundinnen haben.“ Sie lächelte ihm zu, sie wollte keine Traurigkeit beim Abschied.

„Hat dir Tosca gefallen?“, wollte er wissen.

„Ich habe es genossen“, sagte sie. „Danke für den schönen Abend. Pucchinis Musik ist wundervoll!“

„Als Cavaradossi e lucevan le stelle gesungen hat, habe ich Tränen bei dir gesehen.“ Er summte ein paar Takte.

„Es ist nur die Musik und die Leidenschaft darin – ich weiß nicht einmal genau, wovon er gesungen hat. So gut ist mein Italienisch noch nicht.“

„Cavaradossi erinnert sich an die erste Liebesnacht mit Tosca“, erklärte er. „Er singt von den blitzenden Sternen und dem Duft in der Nacht, als sie sich begegneten.“ Antonio seufzte. „Dann singt er, dass er das Leben noch nie so geliebt hat – denn er weiß, dass er durch Verrat sterben wird.“

„Oh, ich verstehe! Das ist wirklich alles in der Musik. Sie hat mich – ja, in den Himmel getragen … Ging es dir nicht auch so? Da fließen Tränen, auch wenn man es nicht will.“

„Pucchini ist ein Meister. Und so sind wir Italiener, zumindest glauben wir das. Großartig, leidenschaftlich, dramatisch, eifersüchtig – und wir lieben das Leben.“ Er nahm ihre Hand in seine Hände.

Nikoline sah ihn schmunzelnd an. Dass er von sich sagte, er sei Italiener, obwohl er hier geboren worden war, erstaunte sie immer. Aber vielleicht dauerte es in einer italienischen Familie ein paar Generationen. Sie selbst hatte ihr Deutschsein wie eine alte Haut abgestreift und war froh, dass keiner sie mehr Nikoline Brinkmann nannte. Auch für ihre Kundinnen hier in Italien Harlem war sie Niky Sartori, die Schneiderin.

„Unsere erste Liebesnacht war auch ein Drama“, erinnerte sie ihn verschmitzt lächelnd.

Er lachte. „Ja, ich könnte von einer Nacht auf dem stürmischen Atlantik singen und von einer schönen Frau, die aus Angst vor dem Schiffsuntergang in meine Arme sank!“

„Du hattest mir erzählt, dass die Deutschland vor Jahren im Sturm eine ihrer beiden Schiffsschrauben verloren hatte und dazu auch noch einen Teil ihres gusseisernen Hecks. Das machte mir wirklich Todesangst.“

„Das war die Wahrheit! Aber ich bin dem Sturm dankbar, denn er hat uns zusammengeführt.“

Sie nickte. „Ohne Sturm wären wir uns nie begegnet, denn die Erste und die Zweite Klasse trennen Welten.“

„Auf einem Schiff“, sagte er ernst, „aber nicht in Amerika.“

Sie lächelte in sich hinein. Er hatte es nie anders erlebt.

„Niky“, sagte er, „mir ist in diesen Tagen klar geworden, dass ich nicht mehr ohne dich leben möchte.“ Er drückte ihre Hand und sah ihr in die Augen. „Möchtest du meine Frau werden?“

Sie schaute ihn erschreckt an.

„Du würdest mich auf meinen Geschäftsreisen begleiten, nach Florenz und Rom, Bordeaux und Paris, wir wären immer zusammen … – Mama sagt auch, wir sollen heiraten.“

Sie zog ihre Hand weg. Heiraten! Warum das? Es war doch gut miteinander, harmonisch, unkompliziert, so … ach! Ihre Kehle war wie zugeschnürt.

Er stieß sie an. „Was ist? Keine Begeisterung? Magst du mich nicht? Oder hast du einen anderen lieber?“

„Man heiratet doch nur, um eine Familie zu gründen … Im Mai werde ich vierzig – nein, nein, ich möchte keine Kinder haben“, brachte sie endlich heraus.

„Niky, wir haben genügend Nachwuchs in der Familie, lauter Nichten und Neffen. Du kennst sie, und alle lieben dich.“

Sie seufzte. Ja, auch sie liebte alle, die ganze fröhliche Familie, sogar seine Mama. „Reicher Mann heiratet armes Mädchen – ich sehe schon die Schlagzeilen“, beharrte sie und schüttelte den Kopf.

„Das ist mir vollkommen gleichgültig“, betonte er, „sollen die Zeitungsleute schreiben, was sie wollen. Ein paar Tage später haben sie ein anderes Thema.“

„Nein“, sagte sie bestimmt, „die Reporter würden wissen wollen, wer das Herz des Antonio Mancino erobert hat, und sie würden dahinter her sein, bis sie es ganz genau wüssten. Verzeih mir, aber ich kann dich nicht heiraten.“

Er sah sie erstaunt an. „Warum nicht?“, fragte er mit rauer Stimme.

Ihr stiegen die Tränen in die Augen. „Ich … ich kann es dir nicht erklären. Nicht jetzt, lass mir bitte etwas Zeit.“

Er betätigte den Scheibenwischer, starrte ins Schneetreiben und schwieg eine ungemütliche Weile. Dann wandte er sich ihr wieder zu, und in seinen dunklen Augen blitzte es. „Gut“, sagte er, „wenn ich aus Europa zurück bin, erwarte ich deine Antwort.“ Er zog sie an sich und küsste sie hart. „Ich glaube, ich habe eine ehrliche Antwort verdient!“

Sie konnte nur noch stumm nicken, öffnete die Wagentür, raffte ihren Mantel, stieg aus und schlug die Tür zu. Kalt fielen die Schneeflocken auf ihr heißes Gesicht und blieben in den Wimpern hängen. Sie blinzelte, hielt den Hut fest und stakste durch die neu aufgehäuften Schneeverwehungen hinüber in den Schutz des Ladeneingangs. Der Motor des Fiats heulte auf, während sie noch nach dem Schlüssel in ihrer Handtasche suchte. Antonio fuhr los, sie drehte sich nicht um. Das Motorengeräusch wurde leiser und leiser, und endlich verschluckt vom fallenden Schnee.